Der junge Hugo Chavez hält das kleine Büchlein mit der venezolanischen Verfassung in die Fernsehkameras. Warum um eine Erlaubnis fragen, die stehe noch hier drin, spottete der Hoffnungsträger einer ganzen Generation damals. Chavez spielte auf ein Demonstrations-Verbot an, das die Mächtigen des alten Venezuelas der jungen aufstrebenden sozialistischen Bewegung um Chavez einst auferlegen wollte. Das Video hat die aktuelle oppositionelle Studentenbewegung vor ein paar Monaten erneut ins Netz gestellt. Es war ihre Antwort auf den Versuch des amtierenden sozialistischen Präsidenten Nicolas Maduro, der im Frühjahr die Massenproteste verbieten lassen wollte.
Es ist entlarvend, wie sich die Geschichte wiederholt. Und auch in einem anderen Fall wird der mittlerweile verstorbene Hugo Chavez zu einem Kronzeugen der Opposition. Wieder war es der junge Chavez, der kritisierte, dass die offiziellen Amtsträger ungeniert die Privatflugzeuge des staatlichen Erdölkonzerns PSVSA nutzen würden. Er kündigte an: Das wird ein Ende haben, das eingesparte Geld werde den Armenvierteln des Landes zu Gute kommen. In diesen Tagen wird Venezuela von einem ähnlichen Skandal erschüttert, denn Venezuelas mächtige Sozialisten nutzen mittlerweile wie ihre verhassten Vorgänger den Flugzeugpark des staatlichen Erdölkonzerns wie es ihnen gefällt. Das Verhalten der Mächtigen hat sich nicht geändert, nur die Farbe ihrer Hemden.
Immer mehr Militärs in der Regierung
Die Anzahl der gut bezahlten Militärs, die sich in der Regierung wiederfinden, ist vor allem in zweiter und dritter Linie erschreckend hoch und erinnert an dunkle lateinamerikanische Epochen. Ranghohe Oppositionspolitiker wie Leopoldo Lopez sitzen trotz Protesten von Menschenrechtsorganisationen, Friedensnobelpreisträgern und den Vereinten Nationen bereits im Gefängnis und so wie es ausschaut, werden bald weitere folgen. Nun wirft die Justiz Oppositionspolitikerin Maria Corina Machado vor, sie soll ein Attentat auf Präsident Maduro geplant haben. Auch sie könnte hinter Gittern verschwinden. Machado hatte übrigens für das Jahr 2016 mit Blick auf die katastrophale Bilanz Maduros den Start eines Amtsenthebungsverfahrens angekündigt, wie es die Verfassung als eine Möglichkeit vorsieht.
Wer inzwischen auf das Schicksal des Häftlings Leopoldo Lopez blickt, sollte einmal über den Tellerrand hinausschauen. In Chile, Uruguay und Brasilien sitzen derzeit Poliktikerinnen und Politiker in den Präsidentenpalästen, die in ihrer Biographie eines gemeinsam haben: Sie saßen wegen ihrer politischen Überzeugung im Gefängnis. Diese Haftzeit hat ihnen eine ungeheuere Glaubwürdigkeit verliehen, auf die sie heute noch bauen können. Venezuelas Sozialisten haben mit der Inhaftierung Lopez langfristig betrachtet, einen schweren Fehler begannen.
Venezuelas Regierung geht systematisch vor wie ein sozialistisches Land aus dem 20. Jahrhundert: Zug um Zug werden die führenden Köpfe der Opposition erst entmachtet, dann verhaftet und schließlich weggesperrt. Regierungskritischen Tageszeitungen wird der Zugang zum Zeitungspapier so schwer wie möglich gemacht, während gleichzeitig neue sozialistische linientreue Druckerzeugnisse die Straßen überschwemmen. Die staatlichen Medien schwimmen im Geld, selbst linke deutsche Lobbyportale erhalten Spenden. Wer wegschaut und lobt, statt kritisch zu hinterfragen, verdient gutes Geld und macht Karriere. Auf der anderen Seite stehen hunderte arbeitslose Journalisten, die sich nicht kaufen lassen wollten. Sie zahlen einen hohen Preis. Gleichzeitig baut der Staatsapparat eine neue Art „Stasi“ auf. Sein Ziel: Journalisten, oppositionelle Politiker und kritische Studentenführer. Das Leben der Anderen ist scheinbar wieder hochinteressant.
Jeden Tag verlassen junge gut ausgebildete Venezolanerinnen und Venezolaner frustriert das Land, weil sie keine Hoffnung auf Besserung mehr haben. Weil nicht Kompetenz und Engagement über Aufstiegsmöglichkeiten entscheiden, sondern Parteizugehörigkeit, Linientreue und familiäre Kontakte. Viele von ihnen sind zu Beginn des Jahres auf die Straße gegangen. Sie hatten gehofft, dass ihre Stimme gehört wird. Dass die Regierung endlich eine Antwort findet, auf die Lebensmittelknappheit, die staatliche Zensur, die total aus dem Ruder gelaufene Kriminalität und die Gewalt der gefürchteten paramilitärischen Banden, den sogenannten Colectivos. Einen Moment lang schien es so, als würde Präsident Maduro auf dem Höhepunkt der Krise auf diese Kritik eingehen, als er öffentlich die Gewalt brandmarkte und alljenen absprach, echte Venezolaner zu sein, die eine Waffe auf ihre Landsleute richteten. Doch die Macht dieser regierungsnahen Colectivos, einst von Chavez mit Waffen ausgestattet, um eine gefürchtete US-Invasion abzuwehren, ist mittlerweile viel größer als der Präsident selbst. Und die Angst vor diesen Banden ist überall greifbar, denn sie kontrollieren ganze Stadtviertel per Videokamera und Spitzelnetzwerk.
Venezuelas Studenten fliehen aus dem Land
Venezuelas Studenten verlassen in Scharen das Land, weil die Staatsmacht mit Handschellen, brutaler Gewalt und Pistolenschüssen auf ihren Hilferuf reagierte. Eine Anwältin, die das alles dokumentierte, ist mittlerweile vor Morddrohungen nach Tschechien geflohen. Von der Staatsmacht erschossene Studenten: Das gibt und gab es nicht nur in Mexiko oder Kolumbien, das gibt es auch in Venezuela. Ein paar Sicherheitskräfte, die das Pech hatten, das ihre Gewaltaktionen auf Video aufgezeichnet wurden, wandern deswegen hinter Gitter. Die geistigen Urheber der staatlichen Gewalt aber bleiben unangetastet. Diese Ungerechtigkeit schafft Wut und einige aus dem Lager der Opposition greifen deshalb zu gewalttätigen Mitteln, weil sie offenbar nicht mehr an die Wirkung friedlicher Proteste glauben. Die Spirale der Gewalt beginnt sich zu drehen.
Das Land ist längst zum gefährlichsten Fleckchen Erde in Südamerika geworden, die Aufklärungsquote ist erbärmlich. Niemand wagt es sich mit den Colectivos anzulegen, kein Polizist, kein Staatsanwalt, kein Richter, denn die Verbindungen der Banden reichen bis ganz oben. Wer einmal mit eigenen Augen gesehen hat, wie diese motorisierten schwer bewaffneten Banden oppositionelle Politiker umstellen, regierungskritische Zeitungshäuser umkreisen oder vor Wahllokalen die Bürger einschüchtern, kann nur den Hut vor jenen ziehen, die sich von diesen unmissverständlichen Drohgebärden nicht einschüchtern lassen. Zivilcourage ist lebensgefährlich, Demokratie kostet Mut.
Da wahre Ausmaß dieser Gewalt und seiner Hintergründe wird wohl erst irgendwann einmal eine unabhängige Wahrheitskommission ans Licht bringen, wenn diese Regierung in sich zusammengebrochen ist. Die bange Frage bleibt, wie viele Menschen bis dahin noch auf den Straßen Valencias, Maracaibos und der Hauptstadt Caracas sterben müssen.
Hugo Chavez hat sich zweifellos verdient gemacht um dieses Land, als er erstmals die Armen in den Mittelpunkt der Politik stellte. Er hat Sozialprograme aufelegt, die gut gemeint, aber schlecht gemanagt wurden. Die Armen haben unter Chavez erstmals von einem Staat auch profitiert, als nur eine Last zu sein. Ihre Wählerstimme war in den Kosten dafür gleich mit eingepreist. Heute kann kein Präsidentschaftskandidat mehr in Lateinamerika Wahlen gewinnen, der dieser Bevölkerungsgruppe kein inhaltliches Angebot macht. Die historische Schuld des Revolutionsführers ist es, dass er das Lager seiner Anhänger mit Waffen so vollgestopft hat, dass einem Angst und Bange werden kann. Kontrollierbar ist das schon lange nicht mehr. Und es soll offenbar auch so bleiben, denn es sichert die Macht der führenden sozialistischen Familien ab.
Wirtschaftspolitik: Keine Ideen, keine Konzepte
Und Chavez hat es auch versäumt, alternative Wirtschaftszweige aufzubauen, die das Land von der sklavischen Abhängigkeit zum Erdöl befreit. Das Geld wäre da gewesen, doch die Ideen und die Konzepte fehlten. Jetzt stürzt der Ölpreis ins Bodenlose und mit ihm der venezolanische Staatshaushalt. Venezuela hat heute eine Regierung, die nur noch darauf hoffen kann, dass die Zeit des Klimakillers Erdöl noch möglichst lange anhält. Je tiefer der Ölpreis fällt, desto mehr Öl muss Venezuela verkaufen. Andere bemerkenswerte Wirtschaftszweige hat das Land nicht.
Chavez gewann die Präsidentschaftswahlen im Dezember 1998 mit einem Stimmenanteil von 56 Prozent. Es war eine Zeit, die viele Venezolaner voller Hoffnung auf ein neues, anderes Venezuela verbanden. Heute, fast 16 Jahre später, ist die Mordrate so hoch wie nirgendwo in Südamerika, die Opposition wird gejagt, während sich die linientreue Generalstaatsanwältin auf Parteiveranstaltungen feiern lässt. Venezuelas mächtigste Parteifürsten feiern in Caracas, Miami und dem Steuerparadies Panama-Stadt rauschende Partys und posteten die Bilder sogar lange in den sozialen Netzwerken, bis ihnen der Inlandsgeheimdienst steckte, dass das doch keine so gute Idee ist. Parlamentspräsident Diosdado Cabello lässt seine Tochter Daniella von den staatlichen Medien als Sängerin und Model feiern. Er steht damit ganz in der Linie mächtiger US-amerianischer Milliardärs-Familien und ihrer Töchter Paris Hilton und Ivanka Trump. Vitamin B und ein reicher Papa helfen in Venezuela wieder Karriere zu machen. Daniella macht Tourismus-Werbung für das Land, in dem es vor ein paar Monaten ein deutscher Unternehmer nicht einmal vom Flughafen ins Hotel schaffte. Er wurde ebenso erschossen wie eine ehemalige Miss-Tourismus, die es wagte an einer der Studentenproteste teilzunehmen.
In Venezuela ist aus Überzeugung Unterdrückung geworden, aus Aufbruchstimmung wurde Angst. Selbst die populären Sozialprogramme funktionieren nicht mehr, ohne die Öleinnahmen. Und es gibt wenig Hoffnung, dass sich daran in nächster Zeit noch etwas ändern wird. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist gescheitert, alles was jetzt noch kommt, sind seine letzten Zuckungen unter denen noch eine Menge Menschen zu leiden haben werden. Oder es kommt sogar eine Diktatur. Genügend mächtige und gut verdienende Generäle, die viel zu verlieren hätten, wenn die Sozialisten einmal nicht mehr sind, gibt es ja jetzt schon…